(...) Wirklichkeiten werden durch das engmaschige Netz aus Übereinkünften >regelrecht< Verkleidungen angetan, sie werden >förmlich< angezogen, umgekleidet, unkenntlich, verzerrt, es wird schwerer, oft fast unmöglich, oft auch nur verzögert, an sie heranzukommen: glatte Sätze, blendend wie Brillanten, gläserne Berge wie Menschen aus Glas, glatte, spiegelartige, angeblich dem Himmel näher wachsende Fastwolkenkratzer, keine Brüche, keine Risse, weithin nur spiegelnde Glätte.
Übereinkünften unterordne ich mich dann, wenn sie mich aus irgendwelchen >Gründen< überzeugen. Aber nicht, WEIL die Übereinkünfte >nun einmal< gegeben sind. Sinn- wie Zweck>fragen< erlaube ich mir, auch Abweichungen DEM Umstande zuliebe, wie einem ANDEREN Umstande zuliebe, denn wenn Übereinkünfte nur mehr an dieser oder jener Wirklichkeit vorbei wirksam sind, ich aber finde, die oder jene Wirklichkeit einer Übereinkunft schädigt, glättet, behindert, stutzt zurecht, vereinfacht, verflacht; deckt zu, wo ich abdecken möchte; bekleidet, wo ich ausziehen möchte; macht ruhig, wo Unruhe ist; vollendet, was eine Ruine ist; schafft Übersicht, wo keine ist; da sag ich mir dann: So nicht, liebes Wort, liebes Zeichen. Du leistest noch viel mehr, wenn es dir zugebilligt wird. Du kannst noch viel mehr, wenn du nicht derartigen Einschnürungen ausgesetzt bist und bleibst. Also, es mir, wie schon gesagt, gesagt, dann getan: Auf dem Papier ist dann die Verletzung einer Regel? Sozusagen: ein Fehler? Etwas Nichtrichtiges?
Vielleicht ist dann auf dem Papier nur ein noch näheres Herangekommensein an eine Figur, an eine Situationskonstellation, an DEN Zustand, an DEN Prozeß, an DIE Rückwirkung von Ereignissen auf Gruppen, Einzelne; Aufheben einer Eindeutigkeit, die mir unangebracht vorkommt (wenn ich dieses wie jenes bedenke); vielleicht ist dann auf dem Papier nur ein anderer Inhalt als >erwartet<, ein durch Übereinkünfte sozusagen automatisch fortgesetztes Transformationsgeschehen verhindern, ist öfters nötig, hat auch durchaus Gründe, die nachvollziehbar sind, nur dann allerdings nachvollziehbar, wenn unter anderem die Fähigkeit zu Blick-Richtungswechsel zum Beispiel, entfaltet, entwickelt, gesteigert wird, wenn unter anderem immer tiefer ins eigene Bewußtsein eindringt und dieses darauf reagiert, damit arbeiten, sehen, begreifen lernt, daß die Sprache, das (sich entwickelnde) System verbaler Zeichen, eigentlich dem Erfassen von Wirklichkeit(en), dem Vermitteln von unter anderem auch Sachverhalten (egal wie komplex die sind) dient, daß ohne sie NICHT MÖGLICH WIRD das hiefür nötige Denken, daß die Unzertrennlichen >Sprache und Denken< aufeinander gewiß intensivst, vielfältigst, einwirken und daß darauf zu achten ist, daß nicht das Denken auf eine Weise durch das >System verbaler Zeichen< gesteuert >wird<, daß es sozusagen beginnt >vorbeisteuern< an Inhalten, wie sie von Wirklichkeiten vielfältigst zum >Entstehen wie Werden, Vergehen< hinbewegt werden, daß es sozusagen verselbständigt eigenen Zwecken folgt; dieses System verbaler Zeichen >unbemerkt<, also hinterrücks, gleichsam zum >Herrn< sich emporgeschwungen hat, auf dessen >Dienste< zu verzichten zwar nicht möglich wird, der aber dafür >mehr haben< möchte, als ihm eigentlich zusteht; auch >mehr erhält< als es der Weiterentwicklung (der Sprache wie der Denkfähigkeit) guttut. So >ist< es wohl in der täglichen Praxis: es passiert, daß Sätze >weitergestrickt< - >weitergebaut< - >fertiggebaut< werden, ohne daß hiebei bemerkt >wird<, den Satzbedürfnissen, den grammatikalischen und anderen Regeln wird zu ihrer Verwirklichung, zu ihrer Verkörperung auf dem Papier, verholfen, denen wird Rechnung getragen, aber nicht mehr der Wirklichkeit, der näherzukommen., die besser erfassen stets Voraussetzung ist für ihre Veränderung, für ihre brauchbare, nützliche, planvolle, Menschen erliechternde, weiterbringende, bewußte Veränderung, für ihre in ihr angereicherten, aber nicht so ohne weiteres sichtbaren, oftmals verborgenen - Segen wie Fluch aus sich herauswachsen lassen könnende - Sprengkräfte. (...)

Marianne Fritz
Was soll man da machen.
Eine Einführung zu dem Roman >Dessen Sprache du nicht verstehst<
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985